Wir waren unser elf oder zwölf – ganz genau weiß ich das nicht mehr, denn einige Geschwister starben schon im Säuglingsalter. Dass mehrere Kinder die Windeln nicht überlebten, wurde nicht weiter als tragisch empfunden. Gott gab und Gott nahm, und wenn er nahm war ein Esser weniger.
Ich habe mich bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr eigentlich kaum satt essen können. Um die schmale Kost etwas aufzubessern, wurden wir Kinder in die reicheren Nachbardörfer geschickt um Fallobst zu sammeln und auf den Erdäpfel – und Rübenfeldern Nachlese zu halten, soweit das die Bauern erlaubten. Zuweilen ernteten wir auch dann, wenn sie es nicht erlaubten.
Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern war patriarchalisch, Vater und Mutter wurden von uns nicht geduzt, sondern mit „Sie“ angesprochen. Es gab keinen Widerspruch, väterliche Befehle waren wortlos zu erfüllen. Beide, Vater und Mutter, waren – das spürte man – voll Güte; aber es war eine verschämte Güte, man zeigte sie nicht.
Die Chorsänger an der Laibacher Oper hatten eine gemeinsame Garderobe, einen großen Raum, der untertags als Probensaal diente. Auch die Pausen zwischen den Auftritten verbrachten wir in diesem kuriosen Mehrzweckraum. Die einen füllten sie mit dem Erzählen deftiger Witze, die anderen mit Kartenspielen, Rauchen oder Zeitunglesen, wieder andere benützten die Pauken, die von den Orchesterproben hier standen, als Tische für ihre Schachpartien. Ich selbst nutzte die Zeit zum Studium und zur Vorbereitung auf den nächsten Unterrichtstag am Konservatorium. Die Abschlussprüfungen waren streng und feierlich. Festlich gekleidet saß die Jury um den grün bespannten Konferenztisch, der Direktor erschien im Cut. Als Gesangs-Kandidat hatte man ein Prüfungsstück öffentlich vorzutragen, das erst 48 Stunden vorher bekanntgegeben wurde. Die Auswahl behielt sich der Direktor vor. Er hieß Julius Betteto und war gefeierter Baß der Laibacher Oper, und die absolute musikalische Autorität der Stadt.
Ich zählte nicht zu seinen Schülern, sondern lernte bei einer gewesenen Opernsängerin polnischer Abstammung. Gesangstechnisch habe ich herzlich wenig profitiert, aber sie war hochmusikalisch und spielte vorzüglich Klavier. Zu Direktor Betteto hatte sie ein etwas gespanntes Verhältnis. Vielleicht war das der Grund, weshalb Betteto mir ein besonders schwieriges Prüfungsstück zuteilte: die B-Dur Arie „Il mio tesoro intanto“ aus Mozarts „Don Giovanni“. Ich hatte die Arie vorher nie gehört, geschweige denn gesungen. Von den technischen Schwierigkeiten der Arie ahnte ich nichts. Damals löste ich meine Aufgabe rein intuitiv, doch es war wohl ein Wink des Himmels, dass ich so früh auf Mozart hingelenkt wurde.
Die Prüfung bestand ich mit Auszeichnung. Daraufhin wurde mir nahegelegt, mich um ein Stipendium zu bewerben. Es stand da ein bescheidener Fond zur Verfügung, der alle paar Jahre frei wurde. Daß ich es tatsächlich erhielt, ist eigentlich rätselhaft, denn man holte selbstverständlich auch das Urteil Direktor Bettetos ein, und das war vernichtend: „Aus dieser Stimme wird nichts! Für eine Solistenkarriere reicht sie keinesfalls!“
Das Stipendium, das mir für die Ausbildung zum Sänger oder Musiklehrer verliehen wurde, bot mir die Möglichkeit unter drei Musikstädten zu wählen: Paris, Prag oder Wien. Ich entschied mich für Wien.