Im Jänner 1954 wurde Dr. Karl Böhm zum Direktor des neuen Hauses ernannt, der Anfang Mai mit den Proben für das kommende Eröffnungsfest begann. Zum ersten Mal nach zehn Jahren erklang im Haus am Ring wieder  Musik. Ich hatte mir heimlich gewünscht, bei der feierlichen Eröffnungsvorstellung von Beethovens „Fidelio“ mitzuwirken. Ich wäre sicher schon damit zufrieden gewesen, hätte man mir bloß den ersten Gefangenen zugeteilt. So war ich völlig überrascht, als ich eines Tages auf dem ausgehängten Probenplan las, dass ich nicht als erster Gefangener und nicht als Jacquino, sondern als Florestan angesetzt war. Überdies durfte ich unter Bruno Walter bei Beethovens „Neunter“ und Bruckners „Tedeum“ mit dabei sein. Meine Freude war groß, meine Sorge nicht minder. Aber dann kamen die ersten Orchesterproben im neuen Haus unter Böhm und da geschah etwas, das mir starken Auftrieb gab. Als ich meine Florestan – Arie, erstmals begleitet von den Wiener Philharmonikern, zu Ende gesungen hatte, rief mir Dr. Böhm vom Pult her ein lautes „Bravo“ zu. Das hatte ich von ihm noch nicht erlebt. Dr. Böhm pflegte mit Lob vor dem gesamten Orchester sehr sparsam zu sein.

Fidelio
Fidelio
Theater an der Wien 1945, Fidelio von L. v. Beethoven, als Jacquino Fotos: Fayer, Bildarchiv der Österr. Nationalbibliothek
Theater an der Wien 1945, Fidelio von L. v. Beethoven, als Jacquino Fotos: Fayer, Bildarchiv der Österr. Nationalbibliothek

Dann kam die nächste Überraschung. Wenige Tage vor dem Eröffnungstermin wurde ich davon verständigt, dass auf Wunsch Dr. Böhms, der auch diese Premiere dirigierte, ich noch den Octavio übernehmen müsste. Das bedeutete aber, in der Eröffnungswoche nicht weniger als fünfmal hintereinander in anspruchsvollen Partien auf der Bühne zu stehen und nach der schwierigen Partie des Florestan, die durchaus dramatische Akzente erforderte, die weiche mozartische Kantilene wieder finden zu müssen und das schien mir sehr gewagt. Alles das wollte ich Herrn Dr. Böhm zu bedenken geben und begab mich in die Direktion. Dort aber zuckte man nur bedauernd die Achseln: „Leider, Direktor Böhm ist bereits abgereist. Er hat ein Konzert in Graz!“ So nahmen die Dinge ihren Lauf.

Dr. Böhm empfing bei der Eröffnungsfeier am Vormittag des 5.November 1955 aus der Hand des Unterrichtsministers Dr. Drimmel den Goldenen Schlüssel des glanzvoll erneuerten Hauses und begann seine  Festansprache mit denselben Worten, die ich abends zum ersten Mal in diesem Haus singen sollte: „O Gott, welch ein Augenblick!“ Und als am Abend über dem zweiten „Fidelio“ – Akt der Vorhang hochging und meine große Szene einsetzte: „Gott, welch Dunkel hier…!“, empfand ich diesen Augenblick als einen der schönsten meines Lebens.